Der kleine Unterschied

Guido Peltzer

Die gewöhnliche psychotherapeutische Grundhaltung ist folgende. Unsere Seele lebt von inneren Vorstellungen. So stellen wir uns die Zukunft auf eine gewisse Weise vor. Diese Vorstellung entsteht aus dem Gedächtnis unserer individuellen und kollektiven Erfahrungen. Die Vorstellungen ergeben meistens einen bunten Strauß von Möglichkeiten, aus dem wir eine Möglichkeit auswählen und uns auf dem Hintergrund verschiedener Bewertungen und Abwägungen für diese Möglichkeit entscheiden. Dabei glauben wir, dass unser Ich eine Entscheidung getroffen hat. Dieses Ich glaubt außerdem, dass wir uns gegen die anderen Möglichkeiten entschieden haben, denn diese können dann ja nicht mehr verwirklicht werden. Wir machen einen Unterschied zwischen Wirklichkeit und Wirklichkeit. Wir unterscheiden zwischen wirklicher und unwirklicher Wirklichkeit, zwischen virtuellen und wirklichen Welten.
Wie wirklich ist das? Gibt es andere Blickwinkel darauf? Die Neurobiologie stellt dies unter verschiedenen Gesichtspunkten in Frage, besonders was den bewussten Teil der Abwägung angeht. Sicher läuft der größere Teil (90%) unbewusst ab. Unter dem Gesichtspunkt der indischen Sicht ist es sogar so, dass es keine Wahl gibt. Auf der Handlungsebene handeln wir auf eine Art und Weise, die keine Wahl erlaubt. Denn im Moment des Handelns gibt es keine Wahl, sondern nur die Handlung, die wir ausführen. Dazu gibt es keine Alternative, da die Zeit unerbittlich voranschreitet und jede Handlung unwiederbringlich ist. Die Zeit kann nicht zurück gedreht werden. Besonders deutlich ist dies im Moment des Todes!
Es gibt also keine Alternative und auch keine Möglichkeit, die wir auslassen. Die vermeintlich verpasste Möglichkeit kann durch nichts in der Welt ermöglicht werden. Es gibt keinen Grund sich über verpasste Chancen zu grämen. Dies ist eine Vorstellung des Denkens, des Ich´s! Nur das Denken kann also die Tragik der verpassten Möglichkeit vorstellen. Dieses Denken ist dabei nicht wirklich, sondern eben nur gedacht, also eine virtuelle Wirklichkeit.
Solange wir glauben, dass wir die Wirklichkeit kontrollieren können, wenn wir nur die richtigen Entscheidungen treffen, gehen wir in die Falle der Tragik, der verpassten Chancen. Die ganze Literatur ist voll davon.
Der Hintergrund dieser Vorstellungen ist die Idee von der Ursache. Wir denken auf dem Hintergrund von Ursache und Wirkung. Dies liegt nahe, da es unserer Alltagserfahrung entspricht. Wenn ich auf den Tisch schlage, gibt das einen Ton und ich spüre den Schlag, weil ich auf den Tisch geschlagen habe. Die Naturwissenschaft zementiert diese Ansicht und macht uns glauben, das der ganze Kosmos ein Geflecht von Ursache und Wirkung ist. Die Quantentheorie, also auf der Ebene des ganz Kleinen, sagt, das es keine Ursachen gibt bzw. dass Ursachen auch nach der Wirkung sein können. Was ist das denn?
Vielleicht ist Wirklichkeit ein Geflecht von Möglichkeiten, eine unbegrenzte Menge an Möglichkeiten, die neue Möglichkeiten erschließt. Vielleicht muss man dabei über die Frage reden was Information denn ist. Könnte es sein, dass Information Möglichkeiten beinhaltet? Evolution wäre dann das Anwachsen von Möglichkeiten, von Information, wie Manfred Eigen sagt. Dabei wäre die Frage der Entropie und Negentropie neu zu klären?
Unter dem Gesichtspunkt von Nondualität gibt es keine Ursache, die Welt ist – und nichts weiter, keine Ursache. Sie ist nicht im Unterschied zu Nichtsein oder Dasein – Sein und nicht mal das – Leere – bedingungslos und ursachenlos. Ein Möglichkeitsfeld mit einer unzerstörbaren Offenheit für neue Möglichkeiten, für Information. Leere ist in diesem Sinne
Fülle.
Shunyata – full solid emptiness.

Beispiel:
In der Psychotherapie versuchen wir den Mechanismus des Denken und Fühlens bewusst zu machen. Dabei wird deutlich, dass eine Person, die versucht alles richtig zu machen, versuchen wird die Zukunft zu kontrollieren und möglichst auch andere Menschen zu kontrollieren. Daraus entsteht eine Angst vor Verlust dieser Kontrolle und wir diagnostizieren eine Angsterkrankung. Oft ist eine solche Grundhaltung durch lebensgeschichtliche Erfahrungen von Angst und Alleingelassensein und manchmal durch Traumatisierungen mit den beschriebenen Folgen geprägt. Eine solche Person wird wegen großer Verlustängste sich an andere Menschen klammern oder andere Kontrollmechanismen entwickeln.
In einer guten Psychotherapie kann dieser Mechanismus erlebbar gemacht werden. Im günstigen Fall kann die Person dann ihr Verhalten ändern und von der Kontrolle ablassen, loslassen. Das ist meist der schwierigste Schritt, da der Wille die unbewussten Bedingungen oft nicht überwinden kann.
In einer transpersonalen Psychotherapie, wie wir sie verstehen, würde dabei aber die Konfrontation mit dieser Prägung im Vordergrund stehen. Im Shaktopaya (skt.: Link – Über die Notwendigkeit von TPPT, Präsenz in der PT) besteht die Aufgabe darin, an der bemerkten Situation nichts zu verändern, sondern darauf zu vertrauen, dass es sich durch mein Hinschauen verändern wird. Es wird nicht der Wille für die Veränderung eingesetzt. Der Wille dient nur dazu, in der Konfrontation im Hinschauen zu bleiben und nicht auszuweichen. Dadurch wird verhindert, ins Gegenteil zu verfallen, das psychologisch dasselbe ist. Außerdem werden nicht vom Denken vorgestellte möglichen Alternativen herangezogen, sondern die neuen Möglichkeiten ergeben sich aus der Konfrontation mit dem, was ist. Da diese Konfrontation ohne Bewertung ist, da sie ja keine Alternative sucht, wird in der Konfrontation das Verhalten oder das Gefühl, das in der Aufmerksamkeit, im Focus ist, nicht bewertet, nicht abgewertet sondern implizit angenommen. Wenn es gelingt dies bezogen auf die eigene Person zu tun, kann ich mich bedingungslos annehmen. Diese Selbstannahme ist der eigentliche Dreh- und Angelpunkt. Das ist es, wonach wir alle im tiefsten Inneren suchen, – bedingungsloses Angenommensein.
Wir erwarten, dass die Mutter, der Partner, die Partnerin, der Lehrer, das Kind, irgendjemand uns bedingungslos annimmt. Grundlos angenommen sein, das wäre Liebe. Wenn wir darauf warten, dass jemand anderes als wir selbst uns annimmt, werden wir unter Umständen lange warten müssen. Die ganze Gesellschaft wartet darauf und klagt es ein! Das nennt man Politik. Das kann nur schief gehen. Erst wenn wir bereit sind, uns mit uns selbst zu konfrontieren, uns in dieser Konfrontation so anzunehmen, wie wir sind, ohne Grund und ohne Vorbehalt, werden wir Vertrauen zu uns selbst finden. Das ist Selbstvertrauen, aus dem heraus wahre Liebe entspringt, mit all ihrer Neugier, all ihrer Kreativität.
Wenn die oben erwähnte ängstliche Person die Verursachung ihrer Angst sieht und dabei den desolaten Zustand ihrer meist prekären Lebenssituation bemerkt, wird sie dies unter Umständen noch tiefer in die Verzweiflung führen. Wir kennen die Jammerdepressionen, die das Leid der Welt nicht ertragen können. Wenn dieselbe Person aber im Blick auf sich selbst keine Bedingungen stellt, das gesehene nicht bewertet und in der Konfrontation bleibt, gelingt ein Schritt zur Selbstakzeptanz, in der die Selbstliebe auf eine gute Art gedeihen kann.
Seine Natur nähren, so dient man dem Himmel. Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst muss in diesem Sinne umgekehrt formuliert werden: Liebe dich selbst, dann liebst du deinen Nächsten.
Dies gelingt aber nur, wenn die Fülle in der Selbstannahme gesehen werden kann. Nur wenn
es gelingt, die unermesslichen und unbegrenzten Möglichkeiten in mir immer neu zu entdecken, werde ich bereit sein diesen Weg zu gehen.
Im Existentialismus wurde nur die Leere gesehen und nicht die Fülle in der Leere, die alle Möglichkeiten bereithält. Folgerichtig wirft in der Naturwissenschaft eine neue Antwort viele neue Fragen auf, weil die Wirklichkeit immer eine Möglichkeit ist, die weitere Möglichkeiten breit hält.
Dann kann gesehen werden, dass die Angst völlig überflüssig ist, da ja schon alles da ist und nichts hergestellt werden muss. Dann kann Selbstvertrauen gelingen und in der Selbstakzeptanz die Selbsttranszendenz reifen.